„Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“ (Lk 10,2)
Mit diesen Worten leitet Jesus seine Ansprache an die „72 Anderen“ ein, die ER dann jeweils zu zweit vor sich her in alle Städte und Ortschaften aussendet, in die ER selbst gehen will. (vgl. Lk 10,1)
Im Zehnten Kapitel seines Evangeliums überliefert uns Lukas diese Rede Jesu. Und bereits im neunten Kapitel schildert der Evangelist, wie Jesus „die Zwölf“, – also die Apostel – aussandte „das Reich Gottes zu verkünden und die Kranken gesund zu machen“ (Lk 9,2).
Sowohl den Aposteln wie auch den „Anderen“, die Jesus heute aussendet, gibt ER klare Anweisungen, wie sie sich für ihre Aufgabe rüsten sollen. Oder besser gesagt, womit sie sich nicht ausrüsten sollen: „keinen Geldbeutel, keine Vorratstasche und keine Schuhe!“ (Lk 10,4)
Und ER trägt ihnen auf, was sie Sagen und Tun sollen: Den Frieden verkünden, die Kranken heilen und den Leuten sagen: „Das Reich Gottes ist Euch nahe!“.
Das gleiche hatte ER übrigens auch den Aposteln aufgetragen. Aber jetzt schein es, dass ER die Verkündigung breiter aufstellen will.
Übrigens trägt ER ebenfalls beiden Gruppen auf, sich nicht aufhalten zu lassen (Lk 10,4b) und sich nicht damit zu belasten, wenn jemand sie nicht aufnimmt, oder ihre Botschaft nicht hören will (vgl. Lk 9,5 und Lk 10,10f).
Die „72 Anderen“ und die „Zwölf“
Ich frage mich, wer diese „72 Anderen“ sind, von denen Lukas da berichtet.
Wer „die Zwölf“ sind, ist klar: Es sind die Apostel, die uns auch namentlich bekannt sind. Die Zahl 12 erinnert an die Zahl der Stämme Israels.
Von den „72 Anderen“ erfahren wir keine Namen und kein Geschlecht, nicht den Beruf und auch nicht die Herkunft.
Die Zahl 72 erinnert an die 72 Nationen der Welt, wie sie in der griechischen Übersetzung des Buches Genesis (LXX Gen 10) genannt werden. Hinter der Zahl 72 sehen schon frühe Kirchenlehrer wie Hieronymus und Origenes einen Hinweis auf die Mission an alle Völker.
Obwohl Lukas keine explizite Aussage über das Geschlecht der „72 Anderen“ macht, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass hier nur Männer gemeint sind. Im Gegenteil: Die Struktur und Theologie des Lukas (in seinem Evangelium und in der Apostelgeschichte, die auch aus seiner Feder stammt) legt nahe, dass Frauen ebenso teilhaben an der Nachfolge und Sendung Jesu.
Und ebenfalls interessant ist, dass Jesus die „72 Anderen“ immer zu zweit aussendet. Es geht hier also nicht um Einzelarbeit, sondern um Teamwork. Die Aussendung zu zweien, erinnert mich an das Wort Jesu im Matthäusevangelium: „Wo zwei (oder drei) in seinem Namen versammelt sind“ (Mt 18,18-19), da ist Jesus auf alle Fälle mit dabei.
Was sagt all das nun für uns heute?
Die „Zwölf“ symbolisieren Amt und Leitung, eng verbunden mit der apostolischen Tradition. Sie stehen für das verbindliche Lehramt, für die Sakramente, für die strukturelle Einheit der Kirche. Auch für den Papst, die Bischöfe, die Priester und Diakone.
Die „72 Anderen“ repräsentieren die breite Jüngerschaft: Menschen, die nicht notwendigerweise geweiht oder offiziell beauftragt sind, aber dennoch Teil der Sendung Jesu. Sie zeigen: Jeder und Jede Getaufte ist gesandt, am Reich Gottes mitzubauen.
Die Konsequenz für heute ist, dass die Kirche nicht nur auf Hauptamtliche (Priester, Diakone etc.) setzen kann. Sie ist angewiesen auf die Mitverantwortung aller. Ja besonders der Laien – Frauen und Männer, Jüngere und Ältere. Lebendige Pfarrgemeinden sollen Räume sein, in denen viele unterschiedliche Charismen zur Entfaltung kommen. Und die ALLE sind Gesandte. Die „Zwölf“ und die „72 Anderen“ haben unterschiedliche Aufgaben, aber sie dienen demselben Ziel: der Verkündigung des Reiches Gottes.
Es gibt also kein Gegeneinander, nicht einmal ein nebeneinanderher, sondern ein Miteinander von verschiedenen Diensten.
In jeder Gemeinde und jeder Gemeinschaft gibt es unterschiedliche Aufgaben, die gleichermaßen wertvoll sind.
Eine Gemeinde lebt, wenn sie plural ist, wenn jede/r weiß, dass sie/er gebraucht wird. Und auch heute braucht es ein „Zwei und Zwei“ (Lk 10,1): Teams, Begleitung, Zusammenarbeit.
Die Gruppe der „72 Anderen“ ist offen für Frauen und Männer, Menschen mit Behinderungen, Ältere, Jugendliche, Menschen mit Brüchen in ihrer Biografie.
Und alle sind aufgerufen, an der Sendung Jesu teilzuhaben und teil zu nehmen.
Die „72 Anderen“ sendet Jesus in Städte und Orte wohin ER selbst kommen will (Lk 10,1).
Auch heute gilt: Jesus kommt durch die, die in seinem Namen unterwegs sind.
Deshalb zeigt sich Kirche nicht nur im Kirchenraum, sondern im Alltag: in Familien, Schulen, Pflegeheimen, Online-Räumen.
Eine missionarische Gemeinde fragt: Was braucht unser Ort? Wen sendet Jesus heute hierher?
Der Auftrag und die Sendung Jesu gilt allen, nicht nur wenigen.
Jede Pfarrgemeinde ist gerufen, „72er-Gemeinde“ zu sein: offen, gesendet, vielfältig, im Dienst des Reiches Gottes.
Wie schon zur Zeit Jesu, so gilt auch heute: „Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.“ (Lk 10,2)
Bitten wir also den Herrn der Ernte, auch in unseren Gemeinden Arbeiter für seine Ernte auszusenden! (vgl. Lk 10,2)