Es war einmal ein Mann, der hatte von einer Stadt gehört, in der alle Menschen wirklich nach dem Evangelium leben. Er machte sich auf den Weg, um diese Stadt zu sehen. Als er sie gefunden hatte, war er mehr als überrascht. Alle Menschen, die ihm begegneten, sahen seltsam aus. Ihnen fehlte ein Auge, eine Hand, ein Fuß. Niemand war unversehrt. „Welcher grausame Tyrann hat dies verbrochen? Wer hat die Stadt überfallen und die Menschen hier so zugerichtet?“ fragte der Mann entsetzt. „Das haben wir selbst getan!“ gab man ihm zur Antwort. Und die Menschen waren offensichtlich auch noch stolz darauf. „Das haben wir selbst getan, denn so haben wir es ja im Evangelium gelesen: Wenn dich Auge, Hand oder Fuß Ärgernis gibt, dann reiß es aus und hacke sie ab!“ (Quelle: Dr. Jörg Sieger)
Liebe Schwestern und Brüder!
Sie merken schon, dass eine wörtliche Umsetzung dessen, was Jesus im Evangelium da heute sagt, auch von Ihm selbst wohl so nicht gemeint sein kann.
Jesus verwendet das literarische Stilmittel der „Hyperbel“ – die Übertreibung – um damit für seine Zuhörer die Dringlichkeit seiner Aussage zu unterstreichen.
Was Jesus tadelt, das geht eben überhaupt nicht für einen Christen!
Der Evangelist Markus verwendet hier das griechische Wort σκανδαλίζειν für das was eben gar nicht geht.
Von diesem Wort leitet sich unser Wort „Skandal“ ab.
Hatte Jesus noch fünf Verse vorher ein Kind in die Mitte gestellt und gesagt: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ (Mk 9,37) – Wir haben es am vergangenen Sonntag gehört – So sagt er jetzt mit seiner drastischen Hyperbel, dass einem von diesen Kleinen, die an ihn glauben, Ärgernis zu geben, ganz und gar
nicht geht. (vgl. Mk 9,40)
Vielleicht fühlen Sie sich – wie ich – in diesem Zusammenhang auch an den Missbrauchsskandal erinnert.
Da mussten wir feststellen, dass auch innerhalb der Kirche Dinge vorgefallen sind, die eben ganz und gar nicht gehen. Dass Menschen mit den Kleinen und Schwachen Sachen gemacht haben, die in keiner Weise entschuldbar sind.
Doch gleich im Anschluss an diese unmissverständliche und drastische Aussage, lenkt Jesus den Blick noch in eine ganz andere Richtung: Nach der Devise: Wenn Ihr auf Andere mit dem Finger zeigt, dann zeigen zugleich drei Finger auf Euch selbst!
Und bevor sie wirklich die Gelegenheit haben, auf Andere mit dem Finger zu zeigen, deutet Jesus mit den berühmten drei Fingern: „Wenn dir deine Hand Ärgernis gibt“ (Mk 9,43), „wenn dir dein Fuß Ärgernis gibt“ (Mk 9,45), „und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt“ (Mk 9,47), dann hau sie ab und reiß es aus!
Ähnlich drastisch wie beim σκανδαλίζειν im Bezug auf die Kinder ist es mit dem σκανδαλίζειν in DEINEM eigenen Leben.
So berechtigt es ist, das Unrecht, das andere getan haben, anzuprangern, so nötig ist es auch selbstkritisch auf das eigene Tun zu schauen.
Die Gefahr, beim Urteil über Andere ein anderes Maß anzulegen als bei der Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung, ist wohl niemandem unbekannt.
Ärgernisse, Fehlverhalten, Anstößiges – sind wir selber davor gefeit?
Wir wissen, dass wir, nur weil wir Christen sind, nicht automatisch bessere Menschen sind als die anderen.
Jedem, der das gemeint haben könnte, hat spätestens der Missbrauchsskandal die Wirklichkeit gezeigt.
Aber Jesus geht es noch um etwas ganz anderes:
Warum prangert ER das Böse so entschieden an?
Mit Klarheit und unmissverständlich fordert er auf, das Gute zu tun.
Dabei geht es nicht nur um einen moralischen Apell.
Der Grund für die drastische Rede Jesu liegt noch tiefer:
Es geht ihm darum, „in das Leben zu gelangen“ (Mk 9,43.45) und „in das Reich Gottes zu kommen“ (Mk 9,47).
Etwas weniger fromm gesagt: Jesus möchte, dass wir glücklich werden und dass unser Leben gelingt.
Damit unser Leben gelingt, damit wir wirklich glücklich werden und über dieses Leben hinauskommen, braucht es die klare Entscheidung für das GUTE.
Und die Entscheidung für das GUTE, schließt die Entscheidung für das Böse AUS.
Bei der Taufe und bei der Erneuerung des Taufversprechens wird dreimal gefragt, ob wir dem Bösen absagen.
Erst dann folgt die dreifache Frage nach unserem Glauben.
Wir können nicht für das Gute und für das Böse gleichzeitig sein.
Das Eine schließt das Endere aus.
Was Jesus also mit dem Evangelium des heutigen Sonntags fordert, ist unser entschiedenes Eintreten für das Gute.
Freilich machen wir die Erfahrung, dass uns das manchmal gelingt und auch wieder nicht gelingt.
Sind wir also doch verdammt?
Müssen wir als doch damit anfangen, uns Hände und Füße abzuhaken und Augen auszureißen?
Nein!
Aber wir sollen wachsam auf das schauen, was uns vom Guten abhält. Und wenn möglich mit aller Radikalität uns FÜR das Gute und GEGEN das Böse entscheiden.
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass wir immer wieder in die gleichen Fehler fallen.
Unser Glaube an den guten und barmherzigen Gott sagt uns, dass wir immer wieder umkehren können.
Aber einen wirklichen Fortschritt, eine wirkliche Veränderung unseres Lebens, wird es nur geben, wenn wir uns auch klar GEGEN das Böse entscheiden. Das fällt uns manchmal leichter, und manchmal ist es schwieriger. Ja es kann sogar sein, dass wir einen klaren Schnitt machen müssen.
Denn wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir meist den Grund für unsere Schwäche, wir wissen an welchen Stellen wie immer wieder stolpern, wo unsere Schwachpunkte liegen.
Jesus verachtet uns nicht wegen unserer Schwächen und Fehler.
Im Gegenteil!
Er fordert uns sogar auf, unsere Fehler genau anzuschauen, unsere Schwachstellen zu erkennen: Wenn Dir immer wieder die Hand ausrutscht, oder wenn du immer wieder über deinen Fuß stolperst, oder wenn Deine Augen immer wieder auf Dinge sehen, die sie besser nicht sehen sollten – Dann! Ja genau dann, lädt Dich Jesus zu einem klaren Schnitt ein. Ohne diesen klaren Schnitt wirst Du keinen Fortschritt machen.
So ungern wir das hören: DAS ist die Wirklichkeit.
Es ist ähnlich wie bei einem Alkoholiker: Wenn er nicht wirklich einen Schnitt macht und keinen Alkohol mehr angerührt dann wird er nie trocken werden.
Schauen wir also unser Leben ehrlich an und überlegen wir: wo ist in meinem Leben die klare Entscheidung gegen das Böse und für das Gute nötig und wo braucht es vielleicht sogar einen klaren Schnitt?
Jesus möchte, dass unser Leben gelingt. Das Leben jedes Einzelnen und das Leben von uns allen.
Er möchte, dass unser Leben weitergeht, sogar bis zum ewigen Leben.
Er will, dass wir aus den Verstrickungen in das Böse herauskommen.
Er hat von seiner Seite alles dafür getan.
Jetzt sind wir an der Reihe unseren Teil dafür zu tun.
Was von uns gefordert ist, ist die klare Entscheidung gegen das Böse und die klare Entscheidung für IHN.
Wenn wir das verstanden haben und umsetzen, dann können wir den Mann aus der Geschichte, von dem ich am Anfang erzählt habe, gerne zu uns einladen. Er wird dann hier bei uns keine Verstümmelten finden ohne Hände, Füße oder Augen. Aber Menschen, deren Leben gelungen ist.
Gut gebrüllt, Löwe! Gegen das Böse in uns, das oft so gut versteckte, für das Gute in den anderen!