Auf die Wunden schauen – Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit

Im Evangelium rücken sie Wundmale Jesu in den Blick: Am Ostertag zeigt Jesus seine Hände und seine Seite (Joh 20,20). Thomas, der beim ersten Mal nicht dabei war, möchte sie nicht nur sehen, sondern auch berühren (Joh 20,25). Und schließlich bietet ihm Jesus sogar an, den Finger in seine Wunden zu legen (Joh 20,27).
Es sind die Wunden der Kreuzigung, durch die sich der Auferstandene ausweist. Es sind die WUNDEN, an denen man IHN erkennt. Ansonsten scheint ER ja, selbst für seine besten Freundinnen und Freunde, nicht gleich erkennbar zu sein. Woran man IHN aber ohne Zweifel erkennt, das sind die Wunden.
Sie zeigen SEINE Geschichte in ihrer ganzen Brutalität: was ER erlitten, was ER durchgemacht hat. Interessanterweise hat die Auferstehung die Wunden nicht weggenommen. Nach wie vor sind sie sichtbar. Aber anders als am Karfreitag bedeuten sie nicht mehr Schmerz oder gar Tod. Sie zeigen offensichtlich, dass der Auferstandene nicht mehr vom Schmerz gepeinigt und nicht mehr vom Tod bedroht ist.
Beim Blick auf die Wundmale Jesu kommen mir meine eigenen Verwundungen in den Sinn. Nicht nur die Narben an meinen Knien und wo sonst ich Erinnerungen an Verletzungen auf meiner Haut sehen und spüren kann. Auch die inneren Verwundungen und die Narben, die mir seelische Verletzungen in meiner Geschichte beigebracht haben, kommen mir in den Sinn. Die sind nicht selten nachhaltiger und schwerer zu heilen als körperliche.
Verletzt zu werden, tut zwar weh, aber es geschieht in unserem Leben immer wieder und gelegentlich füge ich, fügen wir, anderen Verletzungen zu. Manche dieser Verletzungen heilen schneller, manche langsamer, manche gar nicht. Manche sind leichter und manche so tiefgehend, dass sie uns an die Substanz gehen. Manche Verletzungen kann und will ich verbergen, bei manchen ist das gar nicht möglich.
Jesus zeigt seine Verletzungen selbst, ja lässt sich in seinen Verletzungen berühren. Ich glaube, ER möchte uns dadurch Mut machen, auf unsere Verletzungen, auf die Wunden aus unserer Geschichte zu schauen, sie anzunehmen und offen mit ihnen umzugehen.
Wunden zeigen unsere Verletzlichkeit und die Verwundungen aus unserer Geschichte. Sie zeigen, worunter wir gelitten haben und leiden. Sie zeigen auch unsere Bedürftigkeit nach Heil und Heilung, unsern lebensnotwendigen Wunsch, Schmerz und Tod zu entgehen.
Die Wunden des Auferstandenen offenbaren mir und allen, die ihm begegnen, DEN, der Schmerz und Tod überwunden, der Heil für jede und jeden bewirkt hat. Die Wunden des Auferstandenen sind Sinnbilder für die Erlösung, für Ostern, für das neue Leben.
Da wo Ich meine Wunden anschaue und anschauen lasse, kann Heilung geschehen. Da wo ich verstehen lerne, und die Erfahrung mache, dass Verwundungen zwar zur Wirklichkeit des Lebens dazu gehören, aber nicht das letzte Wort haben, kann ich Lösung und Erlösung erfahren. Wo ich aufhöre in meinen Wunden zu bohren und sie ständig wieder aufzureißen, können sie heilen und verlieren ihre bestimmende Kraft. Sie können sogar für Andere Kraftquelle sein.
Ich habe in den letzten Wochen ein Beispiel dafür erlebt und manche von Ihnen waren sogar dabei: Nach meiner Reha und der Zeit, in der ich für zwei Monate ausgefallen war, habe ich in einer Ansprache erzählt, was ich erlebt, erfahren und gelernt habe. (Vielleicht erinnern Sie sich noch daran.) Was ich da erzählt habe, waren auch meine Verwundungen und Schwachheiten.
Noch nie in meinen über 30 Jahren als Priester habe ich so viele Rückmeldungen auf eine Ansprache bekommen wie da. Mir haben sogar Menschen gesagt: Ich habe das auch schon so erlebt und jetzt geht es mir viel besser. Für mich war das wie ein Vorgriff auf Ostern: Wunden sehen, Wunden zeigen und erleben, dass ER Heil bewirkt.
Von Thomas erzählt uns das Evangelium nicht, ob er tatsächlich die Wunden Jesu berührt hat. Es erzählt uns aber sein Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28b)
Schauen wir, als selbst verwundete Menschen, auf Jesus mit seinen Wunden. Und lassen wir uns von IHM und von Thomas dazu inspirieren, selbst zu bekennen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28b)

1 thought on “Auf die Wunden schauen – Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit

  1. Hubert Anton Wieder

    Danke von Herzen, Martin!
    Eines fehlt mir und dir (?) noch, dass wir die von uns Verwundeten als Gekreuzigten erkennen, behandeln und Vergebung für unsere Verwundungen auch von denen zugesagt bekommen können, die wir tief verletzt haben!

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